Pädagogische Prävention ist vielschichtig, viele schulische Situationen und Strukturen bieten hier Anknüpfungspunkte.
Es ergeben sich drei Themenbereiche, die konzeptionell Berücksichtigung finden sollten:
- Präventive Haltung / Präventiver Schulalltag
- Sexualpädagogisches Konzept
- Präventionsangebote a) für Schülerinnen und Schüler und b) für Eltern
1. Präventive Haltung / Präventiver Schulalltag
Der zentrale Aspekt von Prävention besteht in einer präventiven Haltung, die im Schulalltag gelebt wird und an verschiedenen Stellen zum Ausdruck kommt. Viele Aspekte dieser Haltung sind nicht spezifisch für sexualisierte Gewalt, sondern genauso bedeutsam etwa für die Suchtprävention oder die Gewaltprävention allgemein.
- Zu einer präventiven Haltung gehört der respektvolle, grenzwahrende Umgang gegenüber Schülerinnen und Schülern, wie er im Verhaltenskodex formuliert ist.
- Dazu gehört weiterhin ein kritisch bewusster Umgang mit Geschlechterrollen. Der Schulalltag bietet vielfältige Ansätze, um Frauen- und Männerbilder kritisch zu hinterfragen. Beispielsweise können Lehrkräfte überprüfen, inwieweit verwendete Unterrichtsmaterialien noch immer tradierte Geschlechtsstereotype enthalten und – wenn sie dennoch verwendet werden sollen – Schülerinnen und Schüler darauf aufmerksam machen. Fast alle Unterrichtsfächer bieten auch immer wieder Gelegenheiten, das Thema sexualisierte Gewalt direkt anzusprechen, sei es in Religion beim Thema „Familie“ oder in Geschichte beim Thema „antikes Griechenland“.
- Zu einer präventiven Haltung gehört weiterhin, selbstwertstärkend zu arbeiten, also Schülerinnen und Schüler in ihren Stärken zu würdigen und bei ihren Schwächen zu unterstützen, wie es Schulen in der Regel auch tun. Demütigende Auswahlpraxen im Sportunterricht oder das „Wettrechnen“ in Mathe, bei denen immer die gleichen – übergewichtigen bzw. rechenschwachen – Kinder bis zum Schluss stehen bleiben, sollten der Vergangenheit angehören.
- Ein weiterer Punkt in der präventiven Haltung ist die Fehlerfreundlichkeit und Ansprechkultur in einer Einrichtung, wie sie beim Punkt Ansprechstellen und Beschwerdestrukturen angesprochen wird. Je besser dies in der Schule gelebt wird, umso mehr verinnerlichen Schülerinnen und Schüler diese Haltung und sind in der Lage, auch alltägliche Grenzverletzungen zu thematisieren und damit auch Übergriffe schneller zu beenden und besser zu verarbeiten. Ein wichtiger Erfolg von Prävention!
Hilfreich ist auch eine Orientierung an den sogenannten Präventionsthemen, wie sie sich in vielen Fachveröffentlichungen finden und die in speziellen Fortbildungsangeboten vermittelt werden. Weitere Informationen finden Sie auf der Website der Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs unter diesem Link.
2. Sexualpädagogisches Konzept
Weil Wissen und Sprechen über sexuelle Themen protektiv wirken, sollte das Schutzkonzept auch ein sexualpädagogisches Konzept umfassen. Dazu gehört die Entscheidung, Sexualerziehung im Rahmen des Lehrplans angemessene Bedeutung zu geben, anlassbezogen und fächerübergreifend im Schulalltag auf sexuelle Themen und sexuelle Aktivitäten einzugehen, aber auch auf sexuelle Übergriffe durch Schüler und Schülerinnen fachlich angemessen zu reagieren. Die Richtlinien und Lehrpläne der Bundesländer zur schulischen Sexualerziehung bieten hier konkrete Hinweise zur Ausgestaltung und Umsetzung. Zur Unterstützung gibt es z.T. spezifische Handreichungen und Unterrichtsmaterialien zur Sexualerziehung als auch zum Schutz vor sexueller Gewalt.
Präventionsangebote unmittelbar in sexualpädagogische Arbeit zu integrieren, ist jedoch nicht ratsam. Im Rahmen von sexualpädagogischem Unterricht über Missbrauch und andere Formen sexueller Gewalt aufzuklären, kann bei Schülerinnen und Schülern zu dem Eindruck führen, sexueller Missbrauch sei eine (negative) Form von Sexualität. Kinder profitieren allerdings am meisten von Angeboten zum Schutz vor sexueller Gewalt, wenn sie vorher eine ganzheitlich und positiv orientierte Sexualerziehung erfahren haben, die ihnen fachlich fundierte Informationen, Lebenskompetenzen und Werte im Umgang mit Körper, Sexualität und Beziehungen vermittelt. Mit der Trennung sexualpädagogischer Angebote von Aufklärung über sexuelle Gewalt signalisiert die Schule, dass sexueller Missbrauch eine Form von Gewalt ist.
Für das sexualpädagogische Konzept der Schule ist es essenziell, dass es auch Angebote für Eltern vorsieht. Elternabende bieten die Chance, das Vertrauen der Eltern in die schulische Sexualerziehung und ihre Anliegen zu gewinnen, Unsicherheiten abzubauen und Eltern zu ermutigen, dieses Bildungsthema nicht an die Schule abzutreten, sondern es aktiv mitzugestalten. In der Regel sind Eltern sehr dankbar für die Unterstützung der Schule in diesen Fragen. Manche Eltern stehen solchen Angeboten auch kritisch gegenüber, lassen sich aber überzeugen, wenn ihren Bedenken und Fragen Raum gegeben wird, bevor die entsprechende Unterrichtseinheit stattfindet, und ihnen die präventive Bedeutung der Sexualerziehung vermittelt wird.
Unterstützende Materialien für eine gewinnende Elternarbeit zur Sexualpädagogik vom Petze-Institut für Gewaltprävention sowie von pro familia finden sich in den Tipps.
Wo dies nicht gelingt, kann letztlich nur der Hinweis auf den schulischen Bildungsauftrag, der im Rahmen der landesgesetzlichen Curricula auch Sexualerziehung enthält, helfen.
3. Präventive Angebote
a) Neben dem Nutzen alltäglicher Situationen, um präventive Inhalte anzusprechen, ist es auch wichtig, regelmäßige, explizite Angebote zu machen und diese anlassbezogen durch spezielle Veranstaltungen zu ergänzen.
Unterrichtseinheiten zu Kinderrechten und ganz explizit zum Recht auf elternunabhängige Beratung durch das Jugendamt in Not- und Konfliktlagen, zu sexualisierter Gewalt, Übergriffen durch Kinder und Jugendliche, Gefahren in digitalen Medien sowie zu schulischen bzw. regionalen Hilfestrukturen und gegebenenfalls zum Verhaltenskodex der Schule sollten altersbezogen durchgeführt werden. Dabei ist es hilfreich, externe Fachkräfte, z. B. aus Fachstellen zu sexualisierter Gewalt, von „pro familia“ oder von Familienplanungszentren hinzuzuziehen, die eine Unterrichtseinheit gestalten und im Anschluss ggf. eine Sprechstunde in der Schule anbieten.
Wenn Lehrkräfte selbständig Aufklärung über sexuellen Missbrauch in ihrer Klasse durchführen wollen, sollten sie folgende Aspekte vermitteln:
- dass nicht nur Mädchen, sondern auch Jungen sexuelle Gewalt widerfahren kann,
- dass Männer, aber auch Jugendliche und manchmal auch Frauen Täter sein können
- dass die meisten Menschen Mädchen und Jungen keine sexuelle Gewalt antun
- dass man den meisten Tätern und Täterinnen ihre Absichten nicht ansieht und sie oft sogar sympathisch sind
- dass es häufig bekannte und vertraute Menschen und nur selten Fremde sind
- dass sexueller Missbrauch nichts mit Liebe zu tun hat
- dass Missbrauch oft mit komischen und verwirrenden Gefühlen beginnt
- dass Mädchen und Jungen auch in Chatrooms und in sozialen Netzwerken sexuelle Gewalt widerfahren kann
- dass es auch sexuelle Übergriffe unter Kindern oder unter Jugendlichen gibt und dass man auch in diesen Fällen ein Recht auf Hilfe hat.
Das Sprechen über sexuellen Missbrauch darf bei Schülerinnen und Schülern keine Angst erzeugen. Insbesondere muss der Eindruck vermieden werden, dass Missbrauch die Zukunft eines betroffenen Kindes zerstört. Vielmehr sollte erklärt werden, dass Missbrauch Menschen stark belasten, aber durch Trost, Unterstützung und gegebenenfalls Therapie verarbeitet werden kann.
In weiterführenden Schulen bietet sich auch ein „Markt der Möglichkeiten“ an, auf dem sich in der Schule verschiedene Beratungsstellen und andere Unterstützungseinrichtungen aus der Region vorstellen. Oder es wird regelmäßig, etwa im 8. Schuljahr, eine „Beratungsstellen-Rallye“ (zum Download) veranstaltet, bei der die Schülerinnen und Schüler in kleinen Gruppen verschiedene Beratungsstellen vor Ort kennenlernen und sich dann gegenseitig vorstellen.
Ergänzt werden können diese regelmäßig stattfindenden Einheiten durch besondere Angebote, wie die bundesweite Initiative „Trau dich!“ (zum Link) des Bundesfamilienministeriums und der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung. Im Zentrum der Initiative steht ein interaktives Theaterstück, das Kinder über ihre Rechte und über sexuellen Missbrauch informiert. Dieses wird begleitet durch Elternabende und Lehrkräfte-Fortbildungen. Mehrere Bundesländer kooperieren mit „Trau dich!“: zum Link
Auch andere Theaterstücke von Fachberatungsstellen oder auch thematische Ausstellungen, die der Verein Petze (zum Link) für verschiedene Zielgruppen von Kindern und Jugendlichen anbietet und im Bundesgebiet verleiht, stellen eine wertvolle Bereicherung der schulischen Präventionsangebote dar.
Im Rahmen des vom Familienministerium geförderten bundesweiten Modellprojekts „BeSt – Beraten und Stärken zum Schutz von Mädchen und Jungen mit Behinderung vor sexualisierter Gewalt in Institutionen“ (zum Link) wurde ein Präventionsprogramm für Kinder und Jugendliche mit Behinderungen entwickelt, das auch für Förderschulen geeignet ist. Die Durchführung des Projekts kann über die Fachstellen gebucht werden, die an der Entwicklung des Programms beteiligt waren. Zur Übersicht der kooperierenden Fachberatungsstellen, unter diesem Link.
Weil betroffene Jugendliche, aber auch Kinder oft als erstes ihre Freundinnen oder Freunde ins Vertrauen ziehen, muss in der Präventionsarbeit immer auch an diese Zielgruppe gedacht werden. Viele Jugendliche und Kinder fühlen sich unsicher, wie sie mit dieser Information umgehen sollen, was sie sagen, wie sie reagieren sollen. Auf solche Situationen, ihre Möglichkeiten und Chancen, aber auch ihre möglichen Belastungen sollten Jugendliche und Kinder vorbereitet werden. Für die Arbeit mit jugendlichen Schülerinnen und Schülern kann beispielsweise auf das Angebot washilft.org (zum Link) zurückgegriffen werden.
b) Auch für Eltern sollte es sowohl regelmäßige als auch anlassbezogene Veranstaltungen geben, die sie in die schulische Präventionsarbeit einbeziehen. Von Fachberatungsstellen herausgegebene Informationsbroschüren für Eltern, wie sie unter "Tipps" zu finden sind, können hier eine gute Unterstützung bieten. Dieses Material kann auch die Eltern erreichen, die an den entsprechenden Veranstaltungen nicht teilnehmen können oder wollen. Bereits in der Grundschule ist es wichtig, dass es Elternabende gibt zu den Themen „Wie schütze ich mein Kind vor sexueller Gewalt?“, „Wie begleite ich eine gesunde Sexualentwicklung?“ und auch zum Thema Medienkompetenz im Umgang mit digitalen Medien. Durch solche Angebote bekommen Eltern die Chance, in ihrem Familienalltag präventive Aspekte selbst zu berücksichtigen und haben die Gelegenheit, mögliche Bedenken anzusprechen und verständliche Erklärungen über den Sinn von präventiven Unterrichtsprojekten oder anderen Präventionsangeboten zu bekommen. Das gilt insbesondere für den Bereich der sexuellen Bildung in Form der schulischen Sexualerziehung, der einen wichtigen Baustein der Prävention darstellt. Auch hier gibt es manchmal Sorgen und Vorbehalte von Eltern, die z.B. aus ihrem religiösen oder kulturellen Verständnis heraus das Sprechen über Sexualität ablehnen. Schulen sind dann manchmal geneigt, sich am (vermuteten) kleinsten gemeinsamen Nenner der Elternschaft zu orientieren, statt – wie in anderen Themenfeldern – eigene pädagogische Standards zu formulieren und die Eltern – auch mithilfe von sexualpädagogischen und Präventionsfachkräften – davon zu überzeugen. Um dies tun zu können, müssen Schulen sich aber im ersten Schritt positionieren – im Rahmen eines Präventions- und eines sexualpädagogischen Konzepts.